6. Februar 2009

eat me, drink me

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Alice im Wunderland - Bühnenfassung von Roland Schimmelpfennig (nach Lewis Carroll)
Deutsches Theater Berlin, Kammerspiele
Regie: Roland Schimmelpfennig
Bühne: Nehle Balkhausen
Kostüme: Giulia Paolucci
Musik: Martyn Jaques; musikal. Leitung: Patrick Schimanski, Musiker: Andreas Dormann, Sven Pollkötter, Marc Awolin
mit: Regine Zimmermann, Barbara Schnitzler, Kathrin Wehlisch, Thomas Schmidt, Jürgen Huth, Mirco Kreibich, Gabriele Heinz und Aylin Esener

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Lewis Carrolls Alice's Adventures in Wonderland gehört zu den Kinderbüchern, die ich als Kind nicht verstanden und 10 Jahre später geliebt habe.
Roland Schimmelpfennigs Bühnenfassung von Alice im Wunderland wurde seit ihrer Uraufführung 2003 an mehreren deutschen Theatern gespielt. Zur Zeit unter der Regie des Verfassers am Deutschen Theater Berlin. Zugegebenermaßen bin ich mit vorhandenen Bildern, die es umzustürzen galt, in die Aufführung gegangen - von der Inszenierung am Dresdner Staatsschauspiel 2003/04 (R: Bernarda Horres). Die Bilder sind geblieben.
Aber beginnen wir von vorn.

Ein Mensch mit langen blonden Haaren, in weißer, an die eines Radfahrers erinnernder Kleidung, rennt hastig auf die Bühne. Er läuft wild hin und her und fällt alle 3 Schritte hin, überschlägt sich, rennt wieder, fällt, steht diesmal blutbeschmiert auf, rennt, fällt usw. - das weiße Kaninchen (Mirco Kreibich) - eine Art Kurt Cobain auf Speed. Immerhin sympathisch durch eine weiße (Kunst-)Fellweste (wie auch der Märzhase dank einer grauen Felljacke als ebensolcher zu erkennen ist). Während er neurotisch zitternd sein Lied singt, tauchen Alice (Regine Zimmermann) und ihre lesende Schwester (Barbara Schnitzler) auf. Alice erblickt das Kaninchen und die Reise beginnt.

Follow the White Rabbit.

Eigentlich gibt es gar keine Reise, eigentlich ist man sofort mittendrin. Das Bezugssystem real-irreal ist von vornherein nicht gegeben, da keine Ebene etabliert wird. Es gibt keine Grenze, die Alice überschreitet, um in eine andere Welt zu gelangen - ihre Welt und die des weißen Kaninchens sind von Anfang an ein und dieselbe. Unterstützt wird diese Einheit durch die Besetzung - Alice' Schwester ist auch die Katze und die Königin. In die psychoanalytischen Aspekte, die dadurch eröffnet werden, will ich mich an dieser Stelle nicht vertiefen.

One pill makes you larger
And one pill makes you small

Die Geschichte ist bekannt, Alice findet eine kleine Tür samt Schlüssel, ändert ihre Größe, weint... Ob sie sich dabei ein Stück Torte ins Gesicht schmieren und anschließend aus einem Eimer mit Wasser übergossen werden muss, sei dahingestellt. Jedenfalls gibt Kathrin Wehlisch einen wunderbaren Hutmacher, dessen Kostüm ein wenig an einen Bahnschaffner, einen Transvestit und einen Clown, wie er in einem Marilyn Manson-Clip auftauchen könnte, erinnert.

Ein Mann, der - die Erinnerungen an Schultheaterstücke wachrufend - in einem Schlafsack über die Bühne robbt, stellt die Raupe dar (Jürgen Huth). Die Katze - eine schwarzgekleidete Frau im 80s-Style, die High Heels trägt und laufend Tabletten mit Jonny Walker Red Label herunterspült. Die Königin - eine alte Dame im Rollstuhl, ein jämmerliches Relikt der alten Zeit, das sich lautstark zu behaupten versucht. Diedelum, Diedelei (Aylin Esener udn Gabriele Heinz) geistern über die Bühne, einer von ihnen fehlen ein paar Zähne, am Ende treten sie in Trauerkleidung auf. Der Märzhase - ein etwas kindlicher Tischgeselle, der Alice in der Zweisamkeit seine gähnende Einsamkeit gesteht. Der Siebenschläfer - Kurt Cobain im Heroinrausch.

foto: DT

Fünf Uhr! Und man kommt zu nichts! Nichts!

Das Bühnenbild - kaum existent, schwarz, im Hintergrund die Band - zeigt den Kaninchenbau ohne Wunderland darin - ein schwarzes Loch.
Alice selbst verweist mit ihren roten Schuhen auf das Wunderland eines anderen Mädchens - Dorothy Gale. Allerdings ist Oz weniger einsam und düster als Schimmelpfennigs Wunderland; die Figuren weniger verzweifelt.

Iss mich, trink mich.
Mach mit mir, was du willst.
Mal seh'n, was draus wird.

Die Interpretation des Stücks als Alice' Pubertät wir dem aufmerksamen Zuschauer geradezu ins Gesicht geschmiert: Humpty Dumpty liegt viel daran, Alice unter den Rock zu schauen und sie seine zwischen den Beinen hängende Krawatte - der Phallos schlechthin - berühren zu lassen; des Märzhasen Hand fährt Alice zwischen die Beine, während er von einem gemeinsamen Treffpunkt redet. Neben solchen sexuellen Anspielungen - die angesichts Alice' Erklärung, siebeneinhalb Jahre alt zu sein, etwas merkwürdig anmuten - säuft sie die halbe Whiskeyflasche - von der verdrogten Katze in die Hand gedrückt - und begießt sich am Ende aus einer vermeintlichen Teetasse mit Blut, woraufhin sie verschämt beginnt, es hastig von ihren Beinen und vom Fußboden zu wischen.

Nimm dir doch noch etwas Wein.
- Ich seh' hier aber keinen Wein.
Ist auch keiner da!

Dieses Wunderland ist eine seltsame Welt voller unterdrückter Triebe und daraus entstandener Neurosen. Im Gegensatz zu Dorothys Verlangen, nach Kansas zurückzukehren, lässt sich Alice' Heimkehr gut nachvollziehen. Allerdings ist die Heimkehr unmöglich. Abends im Bett wird Alice von der Teegesellschaft heimgesucht, die ihr eine Serenade singt. Da es kein Hinein gab, gibt es auch kein Hinaus. Es gibt nur Wünsche, keine Befriedigung. Es gibt keinen Wein und keinen Tee. Es gibt nur eine Lösung, vorgetragen von Humpty Dumpty - eo ipso dem Untergang geweiht:

Lass uns einfach so tun, als ob jeden Tag Weihnachten wär'.

Die nächsten Termine sind: 25.2. 20h, 21.3. 19h, 29.3. 20h

alle Zitate außer den ersten beiden sind aus dem Stück

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