1. Dezember 2009

Kiarostamis "Shirin": Eine Empfehlung

Abbas Kiarostamis großartiger Shirin besticht vorweg durch seine reduzierte Form. 113 Frauen, mit der Ausnahme Juliette Binoches sämtlich iranische Schauspielerinnen, sitzen in einem Kino und sehen die (fiktive) Verfilmung eines persischen Epos aus dem 13. Jahrhundert, das im Iran dem Vernehmen nach große Bekanntheit genießt. Formal heißt das: 113 Frauengesichter, deren Züge, vom flackernden Widerschein der Leinwand modelliert, auf- und abtauchen, eingefasst in nahe, unbewegte Einstellungen, die gerade so viel Abstand zu ihrem Gegenstand wahren, dass dieser sich nicht als vereinzelter an die Stelle des Ganzen zu setzen vermag: unaufhörlich macht sich die dunkle Präsenz anderer Zuschauer, von Frauen und Männern, von den Rändern her bemerkbar, weshalb die Gesichter selbst da, wo sie, entrückt wie Maria Falconetti, ganz dem Licht hingegeben sind, nie aus der Gesellschaft heraustreten, der sie entnommen sind.

Der erste Eindruck ist ein anderer. Oft schmiegen sich die Kopftücher wie Vorhänge an Wangen und Stirn, dabei das Ausschnitthafte der Gesichter, ihre Ähnlichkeit mit einer Leinwand hervorkehrend: Ein Affektbild ist eine Großaufnahme, und eine Großaufnahme ist ein Gesicht. Deleuzes bei Eisenstein entlehntes Diktum, wonach die Großaufnahme „eine affektive Lesart des gesamten Films“ gebe, nimmt Kiarostami beim Wort: Das Melodrama um die unglückliche Liebe der armenischen Prinzessin Shirin fällt hier mit einem spielfilmlangen Syntagma reflektierender Gesichter zusammen. Während die Bewegungslosigkeit des Gesichts bei Deleuze als Voraussetzung dafür gilt, dass es zum Schauplatz affektiver Mikrobewegungen werden kann, lassen sich die Zuschauerinnen von Shirin nicht ohne weiteres still stellen. Anstatt das Geschehen auf der Leinwand affektiv zu spiegeln, es mit anderen Worten in reinen Affekt zu überführen, nehmen die Frauen dann und wann Abstand, um sich zur Geschichte zu verhalten. Wenn eine Kinobesucherin beschließt, im Angesicht einer hörbar exzessiven Schlachtszene den Blick zu senken, betont ihr Spiel das Intentionale dieser Geste. Ebenso sehr wie um den affektiven Bann geht es um dessen Unterbrechung, genauer: um die subtilen Akte der Aneignung und Verweigerung, die im Intervall nisten. Eine Frau zupft an ihrem Schal, eine andere wendet sich für einen Augenblick ihrem Hintermann zu, wieder eine andere lächelt, ganz bei sich, über etwas, das vermutlich nichts mit dem Film zu tun hat. Doch Shirin geht weiter: Noch da, wo die kritische Distanz kollabiert, wo mit den Tränen ein Moment der unwillkürlichen Hingabe Einzug hält, ist diese ans Gesellschaftliche zurückgebunden. Denn was hier mimetisch anverwandelt wird, ist Shirins der Staatsräson trotzende Liebe: eine politische Kraft.

Nächsten Samstag um 18:00 ist Shirin ein zweites und letztes Mal im Rahmen der Reihe In 14 Filmen um die Welt im Babylon Mitte zu sehen.

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